Für die Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik durfte ich im April 2019 einen Tribune Libre, einen Leser*innenbrief, verfassen.

Jetzt wo das Blog online ist, möchte ich euch den Artikel nicht mehr vorenthalten! Und offen gestanden, ich muss üben, Beiträge zu schreiben, sie zu erstellen und sie zu teilen.

Also lest selbst, diskutiert mit (nur bitte immer höflich) und macht euch mit meinem Blog vertraut. Es wird sicherlich bald neue Beiträge geben.

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DAS UNTERDRÜCKTE BEDÜRFNIS?

Wann wurden Sie das Letzte mal berührt? Warum wurden Sie berührt? Wann haben Sie das Letzte mal jemanden berührt?
Aus welcher Intention berührten Sie diese Person?
Und viel wichtiger, wie haben Sie sich dabei gefühlt?

Hat es Ihnen gut getan? War es Ihnen ein Bedürfnis?

Mit solchen Fragen beschäftige ich mich seit Beginn meiner Arbeit als Sexualbegleiterin für Menschen mit Behinderung fast täglich.
Die Menschen mit denen ich arbeite, können dieses Bedürfnis oft nicht verbal kommunizieren oder gedanklich vollumfassend reflektieren.
Ein Bedürfnis nach Nähe, Zärtlichkeit, Intimität, Berührung und auch Sexualität.
Es sind Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung und Menschen im Autismus-Spektrum.

Fachfremd, habe ich dieses Angebot während meines Designstudiums entdeckt und fand es so sinnig, dass ich nach meinem Umzug nach Hamburg beschloss, mich diesen Fragen zu widmen.
Schnell erschloss sich mir der grundlegende Gedanke, dass zwei Parteien relativ offen aufeinander zu gehen und sich in einem vorab vereinbarten Rahmen körperlich begegnen. Das damit verbundene „sich angenommen fühlen“ als Ziel.

Für grundsätzliche Fragen war es mir wichtig, mich mit einer Frau und einer aktiven Dienstleisterin besprechen zu können. Glücklicherweise fand ich in Nina de Vries meine Ansprechpartnerin und dankenswerterweise bekam ich Supervision, Orientierung und Rat.

Wie auch Nina de Vries, definiere ich das Angebot als „bezahlte sexuelle Dienstleistung“ und politisch ist es mit der neuen Gesetzgebung in Deutschland auch deutlich so definiert. Ob mit der Möglichkeit von Geschlechtsverkehr oder ohne.
Das es damit in die Kategorie „Prostitution“ fällt, ist mir bewusst. Mittlerweile tendiere ich zu dem Begriff der „Sexarbeit“ und weise darauf hin, dass es eben ein Spektrum an Dienstleistung ist und wir uns nicht aus diesem Grund vor der Sexualbegleitung distanzieren oder gar verstecken müssen.
Wenn wir uns mit dieser Diskussion weiterhin aufhalten, werden noch Jahre ins Land streichen, in denen Menschen das Recht auf eine vollumfängliche, selbstbestimmte Sexualität und damit sexuelle Selbstbestimmung vorenthalten wird.

Eine Fachfremde zu sein, hatte allerdings auch Vorteile.
Eben nicht über medizinisches Hintergrundwissen zu verfügen, gerade bei körperlichen Behinderungen, brachte eine Authentizität meinerseits und das Gegenüber in die Situation, eigene körperliche Besonderheiten mir gegebenenfalls zu vermitteln.
Im Grunde bedeutete es frei von Stereotypen zu sein und zu arbeiten.

Im Laufe der Zeit wurde mir auch das Vertrauen geschenkt mit sog. geistig behinderten Menschen und Menschen im Autismus-Spektrum zu arbeiten.
Für mich wurde es ein Anliegen, mich auf diese Klient*innen zu konzentrieren. Zum Einen weil ich den Eindruck gewann, dass körperlich behinderte Menschen durchaus in der Lage sind, ihre Wünsche auch klassischen Anbieter*innen vermitteln zu können.
Zum Anderen weil ich in der Arbeit mit sog. geistig behinderten Menschen oder Menschen im Autismus-Spektrum eine weit größere Aufklärungsarbeit sah.

Ein wesentlicher Unterschied zum Alltag ist, dass Klient*innen mit mir in näheren Kontakt treten dürfen. Und sie nicht nur in einem Pflege-, Sozial-, oder Therapiekontext berührt werden und den eigenen Körper dadurch anders erfahren. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass es hier einer gewissen Reflexionsfähigkeit bedarf, psychisches Hintergrundwissen benötigt und die Treffen regelmäßig analysiert werden müssen.

Für die Allgemeinheit ist dieses Thema sicherlich oft etwas, mit dem sie sich noch nicht beschäftigt haben. Eben weil sie schlicht und ergreifend nicht behindert sind. Allerdings ist es seit Jahren für die Bertoffenen selbst, die Angehörigen und die Mitarbeiter*innen von Einrichtungen immer wieder mit großen Fragestellungen verbunden.

Auch Menschen die nonverbal kommunizieren, kommunizieren. Und haben eine Sexualität. Oft fehlt es nur an Zeit, Aufmerksamkeit und Mut, dies zu erkennen, abzuwägen und es zu ermöglichen.
In keiner der Einrichtungen habe ich es erlebt, dass man, vermittelt man einer einzelnen Person den Zugang zur Sexualbegleitung, damit die Büchse der Pandora öffnet und es danach „alle“ in Anspruch nehmen wollen.

Erlebt habe ich oft aber Erleichterung. Eine Erleichterung, dass man jemanden hat, der einem Raum für intime Berührungen einräumen kann und ein Personal, dass froh ist, endlich eine*n Ansprechpartner*in und Lösungsansätze gefunden zu haben.

Wir sind alle verwundbar. Sie und ich werden im Laufe unseres Lebens ziemlich sicher für einen Teil dessen auf Hilfe von Außen angewiesen sein.
Was glauben Sie, wird Ihr Bedürfnis nach Nähe dadurch verpuffen? Es kann sich wandeln, ja. Aber wir wollen gesehen, angenommen und wertgeschätzt werden. Und das auch mit und durch Berührungen.

Wenn Sie im Pflege-, Sozial- oder Therapiekontext arbeiten, vielleicht sogar von Menschen wie Ihnen.
Aber es wird sicherlich eine Grenze geben über die Sie nicht treten wollen, können und dürfen. Und das ist gut so. Eine professionelle Distanz ist für Sie, aber auch für das Gegenüber sehr wichtig und schützt alle Beteiligten.

Die derzeitige Lebenssituation ermöglicht es aber manchen Menschen nicht, mit Anderen in eine andere Art von Körperkontakt zu treten.
Für diese Situation ist die professionelle Nähe durch die Sexualbegleitung eine Möglichkeit der Gestaltung von sexuellen Erfahrungen.

Was fehlt ist, dass Sexualität grundlegend von Institutionen miteinbezogen wird. Es müsste eine institutionelle Bereitschaft dazu geben. Verbunden mit einer Anerkennung dieses Bedürfnisses.
Meine Kolleg*innen und ich, können nur Impulsgeber*innen sein.

Es würde mich freuen, würden wir über die Anerkennung von sexuellen Bedürfnissen bei behinderten Menschen gar nicht mehr sprechen müssen und uns schlicht der Einbindung dieser, in die Lebenswirklichkeiten von Einrichtungen widmen.

Ob mit, oder ohne Inanspruchnahme der Sexualbegleitung.
Sowohl bei männlichen Bewohnern als auch, viel zu oft vergessen, bei den weiblichen Bewohnerinnen.